Anwältin spricht über Konflikte in der Kita: „Eltern haben weniger zu melden, als sie oft glauben“

Darf die Erzieherin vor dem Wickeln rauchen? Ist das Kind zu krank für die Kita? Für solche Fälle ist Nele Trenner Expertin. Die Aufsichtspflicht werde selten verletzt, sagt sie. Aber manchmal ist sie geschockt.
Von Karin Christmann / Der Tagesspiegel

Frau Trenner, Sie sind Anwältin und auf Streitfragen in Kitas spezialisiert. Was sind die größten Irrtümer, mit denen Eltern bei Ihnen aufschlagen?
Eines beobachte ich nicht nur bei Eltern, sondern auch bei Fachkräften und Kita-Trägern. Gerade im Moment, nach Ende der akuten Phase der Pandemie, haben alle Beteiligten den Eindruck, dass ihnen bestimmte Dinge jetzt einfach mal zustehen. Die jeweilige Gegenseite kann das aber nicht erfüllen. Der Ton ist rauer geworden, es wird schärfer gestritten als früher.

Worum geht es dabei?
In den Kitas ist Corona noch lange nicht vorbei. Ganz viele Fachkräfte fallen für lange Zeit aus, weil sie an Long Covid leiden. Im Moment geht es in unserer Kanzlei oft um das Thema: Meine Kita macht ständig früher dicht, was kann ich tun? Die Eltern bekommen dadurch massive Probleme. Aber die Fachkräfte sagen: Sorry, es geht einfach nicht. Es sind zu viele Kinder.

Wie stark darf eine Kita die Zeiten, die im Betreuungsvertrag vereinbart sind, zusammenstreichen?
Die Kita als Vertragspartner sagt: Uns ist die vereinbarte Leistung unmöglich. Wenn etwas unmöglich ist, kann ich natürlich nicht zaubern. Man kann auch nicht von mir verlangen, dassich zaubere. Die Gegenseite muss dann ebenfalls keine Leistung erbringen. Das wären im Normalfall Elternbeiträge – die gibt es allerdings hier in Berlin nicht. Die Eltern haben also keinerlei echtes Druckmittel.

Das heißt, Kitas dürfen die Betreuungszeiten beliebig einschränken mit dem Hinweis, dass niemand da ist, der die Kinder betreuen könnte?
In letzter Konsequenz ja. In der Praxis sind die Kita-Leitungen immer im Zwiespalt: Sie können die Betreuungszeiten einschränken oder ein Auge zudrücken bei der Anzahl der Kinder pro Betreuungskraft. Manchmal passiert dann etwas und ein Kind verletzt sich. In diesem Fall sind häufig die Eltern, die sich vorher gegen eine Einschränkung der Zeiten gewehrt haben, die ersten, die sich wieder beschweren: Moment mal, hättet Ihr nicht Stopp sagen müssen?

Wie oft schalten Eltern Sie ein, weil sie glauben, in der Kita sei die Aufsichtspflichtverletzt worden?
Erstaunlich häufig. Durchschnittlich einmal in der Woche erreicht uns eine solche Frage von verständlicherweise aufgeregten Eltern – immerhin hatte ihr Kind ja gerade einen Unfall. Aber erstaunlich selten ist etwas dran.

Warum liegen Eltern da so oft falsch?
Weil Aufsichtspflicht keineswegs bedeutet, dass jedes Kind ständig unter Beobachtung zu stehen hat. Dem Alter angemessen können Kinder auch in der Kita alleine unterwegs sein, zum Beispiel auf dem Außengelände. Und dann kann es vorkommen, dass sich ein Kind verletzt, ohne dass irgendjemand einen Fehler gemacht hat.

Welche Themen gibt es, wegen derer die Kitas mit den Eltern in Konflikte gehen?
Da geht es oft darum, dass die Fachkräfte feststellen, dass die Kinder irgendeine Art von Förderbedarf haben. Dann sagen die Eltern: Nee, das ist nicht so. Zu Hause ist mein Kind ganz normal. Eltern sind oft überrascht, dass sie im Rahmen der Erziehungspartnerschaft mit der Kita verpflichtet sind, sich mit solchen Bedenken zumindest fundiert auseinanderzusetzen und das Kind auch zur Diagnostik bei Fachleuten vorzustellen. Manche Eltern sagen: „Das interessiert mich alles nicht, was die Kita meint.“ Damit riskieren sie im Zweifel die Kündigung des Betreuungsvertrags.

Erzieher müssen auch dann handeln, wenn sie befürchten, dass ein Kind zu Hause Gewalt oder Missbrauch erfährt. An welchem Punkt müssen sie aktiv werden?
Sobald sie gewichtige Anhaltspunkte haben, dass das Kindeswohl gefährdet sein könnte. Das ist schon der Fall, wenn ein Kind eine Woche lang traurig in der Ecke sitzt, und natürlich auch, wenn plötzlich blaue Flecken auftauchen. Es ist dann von großem Vorteil, wenn eine Kita mit Bezugserziehern arbeitet. Jemand, der das Kind gut kennt, kann versuchen herauszufinden, was los ist. Eltern sollten alle wichtigen Ereignisse im Leben des Kindes unbedingt in der Kita mitteilen. Also zum Beispiel, wenn der Hund gestorben ist oder wenn Opa im Krankenhaus liegt. Dann erklärt sich vieles von selbst.

Müsste in den Kitas mehr getan werden, um Kinder vor Gewalt zu Hause zu schützen?
Im Großen und Ganzen wird getan, was machbar ist. Wir müssen auch aufpassen, den Kitas nicht immer mehr Dokumentations- und Berichtspflichten aufzuerlegen. Sonst ist es am Ende wie in der Pflege: immer weniger Zeit für die Patienten, immer mehr Aufwand für die Bürokratie.

“Wenn etwas nicht im Führungszeugnis steht, erfährt der nächste Träger es meist nur durch Zufall.”
Nele Trenner über gewalttätige Erzieher

Umgekehrt ist eine Horrorvorstellung für viele Eltern, ihrem Kind könnte in der Kita Gewalt angetan werden. Welche Rolle spielt dieses Thema in Ihrer Kanzlei?
Es kommt erstaunlich oft vor, aber Fälle schwerer Gewalt sind zum Glück sehr selten. In aller Regel geht es um Themen wie laute Ansprache bis hin zum Brüllen oder Anpacken am Arm. Bei der Vielzahl an Fällen wundert es mich, dass es fast nie die Erzieherinnen und Erzieher sind, die zu ihren Kollegen sagen: Moment mal, das, was Du machst, erscheint mir nicht richtig.

Was glauben Sie, warum?
Es ist insgesamt so ein Druck im Kessel. Alle wissen, dass die eigenen Kolleginnen und Kollegen oft sehr gestresst sind. Es ist viel Verständnis dafür da, dass man auch mal lauter wird. Die Frage ist, ob dieses Verständnis angebracht ist.

Gibt es Vorkommnisse, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Ich erinnere mich an einen Fall, der mich sprachlos gemacht hat. Da rief mich eine Verantwortliche des Kita-Trägers an: „Wir haben hier einen Beißvorfall.“ Meistens geht es dann ums Thema Datenschutz, die Eltern des gebissenen Kindes wollen wissen, welches andere Kind gebissen hat. Aber nein: Eine Erzieherin hatte ein zweijähriges Mädchen gebissen.

Was war passiert?
Das Kind war selbst in einer Phase, in der es andere Kinder regelmäßig gebissen hat. Das ist in dem Alter nicht ungewöhnlich. Es biss einen Jungen, die Erzieherin hat ihn getröstet und versorgt. Dann, fünf bis zehn Minuten später, also nicht aus dem Affekt heraus, ist sie zurück zum Mädchen gegangen. Sie hat ihm das T-Shirt hochgeschoben und gesagt: „Damit du mal siehst, wie weh das tut.“ Und dann hat sie dem Mädchen gezielt in den Arm gebissen. Der Abdruck war drei Tage später noch zu sehen.

Das macht in der Tat sprachlos. Wurde die Erzieherin fristlos gekündigt?
Ja, da kam auch nichts anderes infrage. Das Arbeitsgericht hat die fristlose Kündigung bestätigt, das Landesarbeitsgericht aber leider nicht. Der Berufsrichter dort berichtete in der Verhandlung, er sei als Kind auch verprügelt worden und habe es immerhin zum Richter gebracht. Er hat dann in der Verhandlungspause in der Kantine herumgefragt, wie seine Kollegen den Fall sehen. Manche waren für die fristlose Kündigung, andere sagten: Meine Güte, da wird ja wohl eine Abmahnung reichen. Am Ende hat der Richter die fristlose Kündigung für unwirksam erklärt, weil die Eltern sich nicht beschwert hatten. Das hatten sie aber nur deshalb unterlassen, weil der Träger sofort und konsequent reagiert hatte und die Erzieherin nicht in die Einrichtung zurückgekehrt war. Sie kam auch später nicht wieder. Wir hatten hilfsweise eine ordentliche Kündigung ausgesprochen, und die hatte immerhin Bestand.

Aber kann sich eine solche Erzieherin einfach in der nächsten Kita bewerben?
Ja, es gibt da keine schwarze Liste oder Ähnliches. Wenn etwas nicht im Führungszeugnis steht, erfährt der nächste Träger es meist nur durch Zufall.

Ein weiteres Thema, vor dem Eltern Angst haben, ist sexueller Missbrauch in der Kita. Wie häufig stellt sich da heraus, dass an Vorwürfen etwas dran ist?
Das ist eine gute Frage, die ich aber nur eingeschränkt beantworten kann. Wir begleiten die Leute nicht strafrechtlich, sondern kümmern uns diesbezüglich nur ums Arbeitsrechtliche. Es sind fast immer Männer, die unter Verdacht geraten. Da läuft es in aller Regel darauf hinaus, dass man sich zügig trennt – unabhängig davon, ob tatsächlich etwas vorgefallen ist. Wobei ein Träger tatsächlich mal fast ein Jahr gewartet hat, bis der Erzieher aus der Freistellung zurückkehren konnte. So lange hat das Ermittlungsverfahren gedauert.

“Mittagsschlaf ist ein häufiges Thema in der Beratung. Aber mit so etwas geht es nicht vor Gericht.”
Nele Trenner

Dass fast immer das Arbeitsverhältnis zügig beendet wird, klingt reichlich deprimierend – gedacht aus Sicht eines Erziehers, der unschuldig unter Verdacht gerät.
Es gibt auch immer noch erstaunlich viele Eltern, die verlangen, dass ihr Kind nicht von einem männlichen Erzieher gewickelt wird, und deshalb bei uns Rat einholen. Fast immer sind das muslimische Familien. In manchen Einrichtungen werden männliche Erzieher von vornherein nur im Bereich der über Dreijährigen eingesetzt, wo das Thema Wickeln fast keine Rolle mehr spielt. Das ist sehr schade und schränkt männliche Erzieher empfindlich ein. Und auch den Kindern geht viel verloren, wenn bei den unter Dreijährigen prinzipiell keine Männer eingesetzt werden. Denn auch kleinen Kindern tut es schon gut, männliche Bezugspersonen zu haben.

Frau Trenner, kommen wir zu einigen fiktiven Rechtsfällen für eine Blitzberatung. Ich habe meinem Kind eine Smartwatch mitgegeben, die lag im persönlichen Fach in der Garderobe. Ein anderes Kind hat sie dort herausgeholt und runtergeschmissen, nun ist sie kaputt. Wer zahlt?
Die Eltern. Und zwar die des Kindes, das die Smartwatch mitgebracht hat. Die hat nämlich in der Kita nichts verloren.

Die Infektsaison hat begonnen, ständig bringen andere Eltern ihre hustenden und schniefenden Kinder in die Kita. Kann ich dagegen etwas sagen?
Nein, das ist Sache der Kita. Nur die kann verlangen, dass Eltern ihr Kind vom Arzt anschauen lassen.

Umgekehrt gefragt: Mein Kind hat nur eine Triefnase, aber die Kita weigert sich, es anzunehmen. Darf sie das?
Da habe ich die klassische Juristinnenantwort: Es kommt darauf an. Und zwar darauf, wie triefig genau die Nase ist.

Ein Erzieher betreut sichtlich kränkelnd mein Kind. Kann ich dagegen vorgehen?
Ja, Sie könnten beim Träger vorstellig werden. Er darf nicht durch den Personaleinsatz aktiv dafür sorgen, dass Ihr Kind – falls es gesund ist – auch noch angesteckt wird.

Mein Kind braucht eigentlich keinen Mittagsschlaf mehr, soll in der Kita aber einen machen, damit die Erzieherinnen nacheinander in die Pause können. Abends ist zu Hause bei uns deswegen Halligalli bis halb elf. Kann ich verlangen, dass mein Kind in der Kita mittags nicht mehr hingelegt wird?
Ja, das können Sie. Es sei denn, das pädagogische Konzept sieht den gemeinsamen Mittagsschlaf in dieser Altersgruppe vor und bestand schon, als Sie den Betreuungsvertrag unterschrieben haben. Und wenn das Kind direkt von selbst einschläft, können Sie natürlich nicht verlangen, dass es dann aber bitte schön wieder geweckt wird.

Kommen Eltern mit Problemen wie diesem tatsächlich in Ihre Kanzlei?
Allerdings. Mittagsschlaf ist ein häufiges Thema in der Beratung. Aber mit so etwas geht es nicht vor Gericht. Bis die Sache entschieden ist, ist das Kind in der Schule. Das Gespräch mit dem Kita-Träger ist der richtige Weg.

Mein Kind hat eine Zecke. Die Erzieher möchten sie nicht entfernen, stattdessen soll ich anrücken. Dürfen die Erzieher sich einfach weigern?
Ja, sie dürfen sich weigern.

Die Kita möchte, dass alle Kinder bis neun Uhr da sind, ich möchte meines aber an zwei Tagen in der Woche erst um 10 Uhr bringen. Darf ich das?
Im Grundsatz müssen Sie sich an die Bringzeit halten, wenn diese schon festgelegt war, als Sie Ihr Kind in der Kita angemeldet haben.

Die Erzieherin raucht in der Pause, danach wickelt sie mein Baby. Mich schüttelt es. Kann ich etwas tun?
Nein, Rauchen ist nicht verboten. Das Gespräch zu suchen geht aber natürlich immer.

Ein anderes Kind beißt meines ständig. Kann ich verlangen, dass das andere Kind die Gruppe wechselt?
Nein, eine solche pädagogische Entscheidung ist Sache der Kita.

Sie klingen nicht, als hätten Eltern in der Kita viel zu melden.
Sie haben weniger zu melden, als sie oft glauben. Aber doch auch mehr, als einige Träger vielleicht hoffen.

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Von Karin Christmann / Der Tagesspiegel
19.08.2023

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Zur Person
Nele Trenner, 42, ist Partnerin der Kanzlei VEST Rechtsanwälte Berlin, die seit 2012 als Kitarechtler tätig sind. Sie berät auch Kita- und Hort-Träger. 2019 hat sie das Buch „Was Erzieher_innen wissen wollen: 50 Fragen zu Rechten und Pflichten in der Kita“ mitverfasst.

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