Schneller als die Bürokratie erlaubt

4.000 Kita-Plätze für ukrainische Kinder hat die Berliner Politik versprochen. Um geflüchteten Kindern das Ankommen zu erleichtern suchen Berliner Kitas nach kreativen Lösungen – oft auf eigene Rechnung. Was passiert, wenn Bürokratie auf Pragmatismus trifft? Kita-Stimme.berlin hat erste Eindrücke und Erfahrungen gesammelt.

„Heute war eine ukrainische Mutter bei uns, die über keinerlei Fremdsprachenkenntnisse verfügt und keine Hilfe bei der Übersetzung hat. Für Ihren Sohn suchen wir dringend einen Kita-Platz. Einen Kita-Gutschein haben wir mit Hilfe einer russisch sprechenden Kollegin beantragt (…). Falls Sie irgendwie helfen können, geben Sie bitte Bescheid“. Dieser Hilferuf des Bezirksamtes Steglitz-Zehlendorf ging mit über 250 weiteren Anfragen kürzlich bei der zweisprachigen Hilfsadresse ein, die das Trägerbündnis Kita-Stimme.berlin schon Mitte März eingerichtet hatte, um Anfragen zu bündeln und Kita-Plätze bei den 371 Kitas der 30 assoziierten freien Träger zu organisieren.

Die Nachfrage nach Kita-Plätzen ist groß. 15 Anfragen hat allein Susann Stüver, Kitaleiterin der Kita Helmistrolche im Prenzlauer Berg, bekommen. Drei Kita-Plätze kann sie zusätzlich zu den 72 Bestandskindern anbieten. Zahlreiche Kitas wollen den ankommenden Familien helfen und haben schon Mitte März begonnen, die Aufnahme von Kindern in Eigenregie zu organisieren – pragmatisch und lösungsorientiert und oft schneller, als die Bürokratie erlaubt.

Eine Deutschlehrerin aus der Ukraine im Einsatz am Prenzlauer Berg

Mitte März klopfte die Ukrainerin Lena Bojchenko für ihren Sohn Maxim bei den Helmistrolchen an. Den Kontakt hatte eine deutsche Nachbarsfamilie hergestellt, deren Tochter ebenfalls in die Kita am Helmholtzplatz geht. Der Träger Hanna gGmbH handelte, schloss einen Gastkindvertrag ab und ging in finanzielle Vorleistung. Seit 17. März gehört der fünfjährige ukrainische Junge zu den Helmistrolchen. Manchmal übersetzt ein ukrainischer Junge, der schon länger in Berlin lebt, für den Neuankömmling.

Beim Ankommen half, dass Lena Bojchenko als Deutschlehrerin an einer Kiewer Schule gearbeitet hat und sehr gut Deutsch spricht. Die Ukrainerin ist für die prompte Aufnahme ihres Sohnes sehr dankbar. „Max gewöhnt sich mehr und mehr sich an den Kita-Alltag in Berlin“, sagt Bojschenko. Doch trotz des liebevollen Empfangs in der Helmi-Gruppe vergeht kein Tag, an dem ihr Sohn nicht davon spricht, wie sehr er seine Heimat vermisst.

Doch die Ukrainerin weiß, dass sie und ihr Sohn vorerst in Berlin Fuß fassen müssen. Bald tritt Bojchenko eine Stelle an einer privaten Berliner Grundschule an. Von Anfang an unterstützte die Deutschlehrerin aus der Ukraine die Kita-Stimme.berlin bei der Übersetzung von Formularen, Anträgen, Elternbriefen und aktuell einem Willkommensbrief an die neuen Kita-Kinder. Sie kommunizierte über Whatsapp mit der ukrainischen Kinderärztin ihres Sohnes, um die nötigen Gesundheitsbescheinigungen zu besorgen. Kitaleiterin Stüver freut sich über die kommunikative Unterstützung: „Dass wir insgesamt so schnell und unbürokratisch handeln konnten, liegt auch an einer glücklichen Konstellation der Umstände“.

16 Träger aus dem Bündnis haben sich Anfang März bereit erklärt, schnell und unkompliziert Kita-Plätze für ukrainische Familien bereitzustellen. „Kinder kurzfristig aufzunehmen, ohne den langwierigen Genehmigungsprozess abzuwarten war die Praxis in allen Kitas unseres Bündnisses. Schließlich ging es darum, schnell und unbürokratisch Hilfe zu leisten“, sagt Hartmut Horst, Geschäftsführer des Trägers Hanna gGmbH.

Ende März hat die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie reagiert und ein „vereinfachtes Verfahren“ eingeführt, das Überbelegungen in Kitas über Kita-Gutscheine ermöglichen soll. Doch die müssen nicht nur beantragt, sondern auch genehmigt werden. Und das kann dauern.

Verwaltungsbürokratie trifft auf kreativen Pragmatismus

Die Mühlen der Verwaltung mahlen langsam. Selbst im „vereinfachten Verfahren“ wird es manchmal schwierig. So legt die Kita-Aufsicht die Belegungsregeln mitunter sehr starr aus, statt kreative Lösungen der Träger zu unterstützen. Sie erkennt Anträge auf Überbelegung nicht an, weil ein Teil des Personals Zeitarbeitsverträge hat oder aus anderen Gründen den Vorgaben der Verwaltung nicht genügt. Manchmal wäre es für geflüchtete Kinder einfacher, sich zu zweit an das neue Kita-Leben zu gewöhnen. Doch die Genehmigung wird starr nach Raumschema (drei Quadratmeter pro Kind) nur für ein Kind erteilt. Zeitweise läuft sogar der Online-Link für die Beantragung von Kita-Gutscheinen ins Leere.

Dennoch: Mindestens 140 Plätze für geflüchtete Kinder haben einige Träger des Bündnisses inzwischen anbieten können – teilweise sogar mit offiziellem Kita-Gutschein. Oft jedoch übernehmen die Kitas vorerst die Kosten. Neben den Trägern Hanna gGmbH, INA.KINDER.GARTEN, Gemeinnützige BOOT GmbH und Pad gGmbH zählt zu diesem Kreis unter anderem auch der Evangelische Kirchenkreisverband für Kindertageseinrichtungen Berlin Mitte-Nord (evkvbmn) mit seinen 34 Kindertagesstätten. Kathrin Janert, Vorständin bei evkvbmn, hat in den Kitas des Trägers zwischen Mitte, Kreuzberg, Wedding und Pankow inzwischen 25 ukrainische Kinder aufgenommen. Nur eines der Kinder hat bislang einen Kita-Gutschein der Senatsverwaltung bekommen. Alle anderen Kinder nahm Janert unbürokratisch über Gastkindverträge auf. Für ihre Betreuung ging der evangelische Träger in finanzielle Vorleistung. Janert hat zusätzlich Personal über Zeitarbeitsverträge eingestellt, um ihre Stammbelegschaft zu entlasten. Sie weiß – wie auch viele andere Träger – nicht, ob Berlin die Kosten dafür übernehmen wird. „Es wäre mein Wunsch an die Senatsverwaltung, eine Rückerstattung für die Gastkindverträge zu bekommen,“ sagt die Vorständin voller Hoffnung.

Fachkräfte zwischen Hilfsbereitschaft und eigener Belastungsgrenze

Die Kita-Träger befinden sich in Bezug auf Überbelegung und Betreuungsqualität in einem „Dilemma“. Einerseits kommen die Fachkräfte in den mehr als zwei Jahren Corona an ihre Belastungsgrenzen. Andererseits gehe es darum, „den ankommenden Familien zu ermöglichen, hier schnell Fuß zu fassen und sich ein Leben aufzubauen“, sagt Janert. Umso wichtiger ist es für die Kita-Leitungen, gemeinsam mit ihren Teams zu entscheiden, wie viele Kinder sie aufnehmen können.

Wichtig ist auch das Gespräch mit den Eltern der Stammkinder. Dort ist die Hilfsbereitschaft gegenüber den Neuankömmlingen, ebenso wie bei den Fachkräften, zwar groß. Doch manchmal fragen sich die Eltern eben auch, wie ihre Kita trotz Personalmangel die Betreuung weiterer Kinder organisieren will.

Wenn die Sprachbarriere überwunden werden kann, können die Kitaleiter:innen zu den geflüchteten Müttern und ihren Kindern meist schnell Vertrauen aufbauen. Judith Hansmann, Kitaleiterin der Kita Zion in Alt-Mitte, hat zwei junge ukrainische Frauen als Vertretungskräfte eingestellt, die den Kindern in ihrer Muttersprache bei der Eingewöhnung helfen. Sie sagt: „Um den Müttern ein gutes Gefühl zu geben, war es auch hilfreich, von Anfang an eine russisch sprechende Mitarbeiterin zu haben, die mich in den Gesprächen mit Kindern und Eltern unterstützt hat“. Denn es gilt auch, den Bedenken von Müttern angemessen zu begegnen, die sich schwertun, ihr Kind einer fremden Umgebung anzuvertrauen. Doch erst wenn eine Kita mindestens fünf ukrainische Kinder betreut – das geht laut Senatstabelle nur ab einer Größe von 116 Plätzen – hat sie Anspruch auf landesfinanzierte ukrainische Fachkräfte oder Übersetzer:innen. Wenn fremdsprachige Kräfte fehlen, hilft nur noch Google Translate.

Kita light: Mit Spielnachmittagen die Berührungsängste nehmen

Einer, der schon seit dem Syrienkrieg Erfahrung mit der Betreuung geflüchteter Kinder sammelt, ist Michael Pfau. Pfau ist Bereichskoordinator Kindertagesbetreuung beim Träger Pad gGmbH – einer von acht vom Senat geförderten Modellkitas, die seit 2018 schwerpunktmäßig vor allem Kinder mit Fluchterfahrung betreuen. Der Träger hat dabei auch eine Art mobiles Kita-Einstiegsprogramm ins Leben gerufen, das werktäglich morgens zwischen 8 und 13 Uhr vorwiegend in den Räumlichkeiten von Gemeinschaftsunterkünften für Flüchtlinge stattfindet und geflüchtete Kinder auf die reguläre Kita vorbereiten soll. „Dort eine Nachmittagsbetreuung für ukrainische Kinder aufzumachen wäre einfacher, als Kinder in Kitas unterzubringen, die zu 99 Prozent belegt sind“, sagt Pfau. 6 dieser sogenannten Frühe Bildung vor Ort (FBO)-Projekte – von insgesamt 20 in Berlin – könnte Pfau am Nachmittag für ukrainische Kinder erweitern. Doch der Senat sehe hier den Bedarf noch nicht, und die Finanzierung sei offen. „Wir können alles machen, wenn wir selbst in die Vorfinanzierung gehen“, sagt Pfau.

Bei Pad koordiniert eine ukrainischsprachige Mitarbeiterin die Kita-Platzanfragen und vermittelt Zugang zu den verschiedenen Einstiegsangeboten. Dazu zählen beispielsweise Spielnachmittage, zu denen sich ukrainische Familien mit ihren Kindern in lockerer Atmosphäre in Räumlichkeiten von Kitas oder Freizeiteinrichtungen einfinden können. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Geflüchtete ihre Familie zusammenhalten wollen und sich anfangs schwertun, sich von ihren Kindern zu trennen“, sagt Pfau. Sie bräuchten zunächst einen Rückzugsort, wo sie sich mit Gleichgesinnten treffen können.

Die offenen Nachmittage bieten sich auch als schnelles Hilfsangebot für Familien an, die gar nicht wissen, ob sie in Berlin bleiben können. In Hohenschönhausen betreibt der Träger seit Frühjahr 2019 ein vorbildliches Modell für die Eingliederung von geflüchteten Kindern: Die Kita-Einstiegsgruppe teilt sich dort ein Areal mit der regulären Kita. „Die Kinder treffen sich beim Spielen mit den deutschen Kindern. Danach fällt der Übergang in die reguläre Kita leichter“, sagt Pfau.

Anfang Mai eröffnet auch evkvbmn-Vorständin Janert eine Willkommensgruppe in Kooperation mit einer Aufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Die Gruppe ist Teil der Kita Stephanus im Wedding. Sie soll acht bis zwölf ukrainische Kinder nach und nach an die reguläre Kita-Betreuung heranführen, und Kindern, die oft keine Kita-Erfahrung mitbringen, den Einstieg in den regulären Betrieb erleichtern. Ukrainische Fachkräfte und Sprachmittler:innen werden das Kita-Team unterstützen.

Schön zu beobachten, wie sich die deutsch-ukrainische Kinderverständigung mancherorts längst eingestellt hat. Beispielsweise bei Judith Hansmann, Kitaleiterin der Kita Zion in Alt-Mitte. „Die Bestandskinder zeigen sich sehr interessiert an den ukrainischen Kindern und üben fleißig ukrainisch“, sagt Hausmann. Natürlich wollen sie auch etwas über den Krieg erfahren, um zu verstehen, was den Neuankömmlingen passiert ist. Vor allem eine Frage sei den Kindern dabei nachhaltig im Gedächtnis geblieben: „Was würdet ihr einpacken, wenn ihr wisst, ihr würdet nie wieder in euer Zimmer zurückkehren können?“