Presserückblick KW 34

Do it Yourself und das begleitende Verheddern im Gestrüpp der Bürokratie sind diese Woche Thema.

Weil der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz nicht eingelöst wurde, haben sich in Solingen einige Familien 2019 aus Not zur entschlossen, selbst eine Kita zu gründen. Heute ist eines der Kinder fünfeinhalb Jahre alt, die Kita ist immer noch eine Baustelle. „Wir waren naiv“, sagt eine der Mütter heute. „Und größenwahnsinnig.“ Aber eben auch: verzweifelt.

Warum es für Elterninitiativen fast unmöglich ist, eine Kita zu gründen, beschreibt Spiegel-Autorin Miriam Olbrisch in einem lesenswerten Artikel. Das System ist jedenfalls nicht darauf angelegt, dass Privatleute eine Kita gründen, der Prozess kann Jahre dauern: gemeinnützigen Verein gründen, Notarbesuch, Finanzpläne, Versicherungen, Refinanzierung, Konzepte für Pädagogik und Kinderschutz für die Anerkennung als Träger, Immobilien finden, kindgerechte Ausstattung – all das produziert bergeweise bürokratische Korrespondenz, und das Gefühl, an Schikane zu scheitern.
spiegel.de (paid)

Andere sagen sich: Dann verzichten wir lieber gleich aufs Kinderkriegen. So wirbt die Bewegung „Childfree“ für ein Leben ohne Kinder, unter anderem mit Verweis auf mangelnde Kita-Plätze. Das jedoch geht Tagesspiegel-Redakteurin Susanne Vieth-Entus dann doch ein bisschen zu weit. Sie sagt: Klar, Kinderkriegen ist anstrengend. Aber was sind schon zwei bis drei Jahre ohne Schlaf angesichts einer Lebenserwartung von 80 Jahren? Und im ehemaligen Westberlin haben Eltern aus Not einfach selbst Kitas gegründet. Tja, dann mal los!
(Tagesspiegel)

Die extreme Verlangsamung beim Kita-Ausbau sei einer „Verordnungsverliebtheit“ geschuldet, bemängelt die 73jährige Pädagogin Ilse Wehrmann (Autorin von „Der Kita-Kollaps“) im Interview mit der Frankfurter Rundschau. Bewilligungen scheiterten manchmal an wenigen Quadratmetern, am Abstand der Steckdosen oder daran, ob die Garderobe breit genug sei. Dabei sei das Wohl eines Kindes mehr gefährdet, wenn es ohne Betreuungsplatz bleibt.
(Frankfurter Rundschau)

Wehrmann bemängelt weitere bürokratische Hürden, die potenziellen Fachkräften den Einsatz in der Kita erschweren:

Zitat der Woche I

„_Wir haben in Deutschland 90 Studiengänge zur Frühpädagogik. Aber die Absolventen
dürfen zum Teil nicht in den Einrichtungen arbeiten, müssen sich nachqualifizieren. Das ist einfach
alles viel zu bürokratisch_“.
(Ilse Wehrmann, Pädagogin und Autorin von Der Kita-Kollaps, Frankfurter Rundschau)

In Berlin können Berufsinteressierte ab 7.September wieder vier Monate lang in den Erzieherinnen-Job hineinschnuppern. Das Senatsprojekt „Projekt Zukunft Kita 2.0“ hat Von 670 Interesserenten seit Projektstart 2018 immerhin 239 für einen Kita-Job begeistern können. Auch Quereinsteigende aus anderen Berufen sind erwünscht.

Sind Quereinsteigende die Lösung? Die Tagesschau wirft einen genaueren Blick auf die Debatte und die üblichen Reflexe gegen pragmatische Lösungen zur Entlastung pädagogischer Fachkräfte.
tagesschau.de

Erfreulich, dass inzwischen mehr junge Männer Interesse an dem Erzieher-Beruf entwickeln:

Zahl der Woche

Der Anteil männlicher Kita-Erzieher hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt – von 4,1 Prozent 2012 auf 7,9 Prozent 2022.
(Statistisches Bundesamt)

Mit 17,9 Prozent ist der Anteil männlicher Erzieher bei den unter 20jährigen am höchsten. Weitere Details beim ZDF

Doch Fachkräfte fehlen weiterhin. Und so findet manche Kita, die sich weiter mit dem Mangel herumschlagen muss, inzwischen kreative Lösungen:

Idee der Woche

Um ihre Erzieherinnen zu entlasten, Krankenstand und Berufsflucht entgegenzuwirken, testet eine Hamburger Kita die Vier-Tage-Woche. Außerdem entlastet sie ihre Erzieherinnen mit zwei Studierenden. Das kommt gut an und die Krankheitstage schwinden. Und sogar die Eltern freuen sich, weil sie sich darauf verlassen können, dass die Kita an den vier Öffnungstagen auch wirklich über die volle Zeit geöffnet ist.
(Hamburger Abendblatt)

Heulie der Woche

Die landeseigenen Kitas in Berlin werben inzwischen mit einer Kampagne um das dringend benötigte Fachpersonal. „Berlin braucht Erziehung“ hebt die zuständige Agentur Gud.Berlin für einen sechsstelligen Etat den Zeigefinger, sucht gestrenge Erzieher:innen und zeigt dazu Bilder der hässlichsten Seiten der kaputten Hauptstadt. Ob das Lust auf die Arbeit mit Kindern macht? Wir finden, dass so eher keine Freude am Beruf aufkommt. Obwohl wir grundsätzlich dafür sind, für den Erzieherinnen-Beruf zu werben.
kitas-berlin.de
Und hier geht’s zum Youtube-Video

Übrigens: Auch das Kommunikationsfachmagazin W&V ist nicht begeistert von der Kampagne

Bleiben wir in Berlin und werfen wir zuletzt noch einmal einen Blick auf diejenigen, die bislang vom Bildungssystem noch gar nicht erreicht werden. Berlin schlägt sich bekanntlich besonders damit herum, dass zu viele Kinder, die eine Sprachförderung bräuchten, gar nicht zum Sprachtest auftauchen und schon gar nicht in der Kita. Mit klareren gesetzlichen Vorgaben will Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch die Zügel anziehen, damit das „Kita-Chancenjahr“ die förderungsbedürftigen Kinder tatsächlich abholt:

Zitat der Woche II

Wer nicht zur Sprachstandsfeststellung kommt, muss in die Kita. Wir müssen die Sozialarbeit ausbauen und zu den Eltern nach Hause gehen, und es braucht Bußgelder.“
(Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch, Tagesspiegel)

Wir sind gespannt.

Genießen Sie den Restsommer!

Ihre Kita-Stimme.berlin