Die Kitarechtler Rechtsanwältin Nele Trenner

„Bei manchen Familien brennt wirklich der Hut“

Interview von Judith Pfannenmüller, freie Journalistin Kita-Stimme.berlin (KSB) mit der Berliner Kita-Rechtsanwältin Nele Trenner von den „Kitarechtlern“ (VEST Rechtsanwälte PartG mbB)

Kita-Stimme: Frau Trenner, aus Ihrer Erfahrung als Kita-Rechtlerin: Wie groß ist derzeit der Leidensdruck bei Berliner Eltern auf der Suche nach einem Kitaplatz?
Nele Trenner: Man würde meinen, angesichts des Mangels an Kita-Plätzen müssten die Eltern in größerer Zahl zu uns in die Kanzlei kommen. Das ist jedoch nicht der Fall. Wir vermuten, dass einige Eltern, die sich in der Pandemie mit Homeoffice einigermaßen arrangiert hatten, auch angesichts der derzeitigen Ansteckungslage entscheiden, die Kinder zuhause zu betreuen. Bei manchen Familien brennt wirklich der Hut. Insgesamt haben wir aber den Eindruck, viele fügen sich in ihr Schicksal und haben aufgegeben. Das wäre jedoch fatal. Der Anspruch auf einen Kitaplatz besteht ja nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil die Kinder sich sozialisieren und bestimmte Fähigkeiten erwerben sollen, bevor sie in die Schule kommen.

Kita-Stimme: Eine Klage könnte für Eltern auch abschreckend sein, weil sie unter Zeitmangel und möglicherweise auch finanziellem Druck stehen.
Trenner: Das kann gut sein. In vielen Fällen müssten die Eltern für das Anwalts-Honorar zusätzlich Geld in die Hand nehmen, es sei denn sie haben einen Anspruch auf Prozesskostenbeihilfe. In Berlin und Brandenburg sehen wir im Vergleich zu anderen Bundesländern aber dennoch, dass mehr Eltern den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz einfordern – gerade im Speckgürtel Berlins, wo es oft an Kinderbetreuungs-Infrastruktur mangelt.

„Selbst wer in Berlin einen Kita-Gutschein bekommt, hat nicht automatisch einen Platz.“

Kita-Stimme: Welchen Leidensweg haben Eltern hinter sich, bevor sie zu Ihnen kommen?
Trenner: Meistens stoßen Eltern gegen Wände. Sie bewerben sich bei 20 oder noch mehr Kitas. Dann erfahren sie, dass sie frühestens in ein, zwei Jahren einen Platz bekommen können. Die Krux ist, dass sich der Anspruch nicht an die einzelne Kita richtet, sondern gegen die Wohnortgemeinde. Tatsächlich wissen viele Eltern gar nicht, dass sie den Bezirk informieren müssen, wenn sie in einigen Monaten einen Platz brauchen. Selbst wer in Berlin einen Kita-Gutschein bekommt, hat nicht automatisch einen Platz – sondern nur die Bestätigung, ein Kind im richtigen Alter und einen Bedarf zu haben. Sobald der Gutschein ausgehändigt wird, ist die Sache für das Land Berlin erst einmal vom Tisch. Die Eltern haben dann zwar einen Gutschein, stehen aber immer noch auf 20 Wartelisten, und keiner hilft ihnen.

Kita-Stimme: Und was dann?
Trenner: In diesem Moment müssen Eltern tatsächlich zum Jugendamt ihres Wohnortbezirks gehen, und mitteilen, dass sie einen Betreuungsplatz, gerne auch zum Beispiel in einem anderen Bezirk suchen. Das kann auch der Bezirk des Arbeitsplatzes sein, wenn das für sie günstiger ist. Sie müssen das Jugendamt auffordern, ihnen einen Platz zuzuweisen. Dann muss das Jugendamt aktiv werden und im Bezirk oder in angrenzenden Bezirken einen Betreuungsplatz – gegebenenfalls auch bei einer Tagespflegeperson – auftreiben.

„Eine Gemeinde kann sich nicht darauf berufen, zu wenige Plätze oder Fachkräfte zu haben.“

Kita-Stimme: In welcher Situation entscheiden sich Eltern, sich an Sie zu wenden, um den Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz einzuklagen?
Trenner: Die Entscheidung fällt oft dann, wenn sich die Elternzeit dem Ende zuneigt. Der Arbeitgeber möchte wissen wie es weitergeht. Die Eltern, die wieder Geld verdienen wollen oder müssen sehen sich mit einem massiven Betreuungsproblem konfrontiert, beispielsweise, weil die Großeltern nicht in Berlin wohnen und unterstützen können und andere mögliche Betreuungspersonen fehlen. Dann prüfen wir in Berlin zunächst, ob das Jugendamt schon Bescheid weiß und genügend Zeit hatte, tätig zu werden. Wenn alle Schritte ausgeschöpft sind kommt es zur „Kitaplatzklage“, die ja eigentlich zunächst ein Eilverfahren ist.

Kita-Stimme: Wie lange dauert so ein Eilverfahren denn?
Trenner: Das geht in der Regel relativ schnell. Die Eltern müssen zunächst glaubhaft machen und an Eidesstatt versichern, dass sie sich bei den genannten Kitas beworben haben. Sie müssen versichern, dass sie Tagesspflegepersonen angefragt haben, dass sie beim Jugendamt angefragt haben, dass sie keine Großeltern in der Nähe haben, die sich um das Enkelkind kümmern können.

Kita-Stimme: Eigentlich erstaunlich, dass Familien angesichts des Rechtsanspruchs überhaupt nachweisen müssen, dass sie alle privaten Betreuungsalternativen zur Kita ausgeschöpft haben.
Trenner: Ja, in der Tat. Eine Gemeinde kann sich nicht darauf berufen, zu wenige Plätze oder Fachkräfte zu haben, der Rechtsanspruch steht also grundsätzlich unter keinem Kapazitätsvorbehalt. In der Mangelverwaltung sollen die Plätze dann wenigstens an diejenigen gehen, die es am nötigsten haben. Also schaut man, wie nötig eine Familie den Platz hat.

Kita-Stimme: Wie geht es dann weiter?
Trenner: Dann hat das Land Berlin Zeit, Stellung zu nehmen. Oft heißt es zunächst, der Anspruch könne nicht erfüllt werden. Dann geht es eine Weile hin und her. Aber nach einem Monat ist das Verfahren in der Regel erledigt. Meistens haben die Eltern gewonnen und Anspruch auf einen bedarfsgerechten und zumutbaren Platz.

Kita-Stimme: Was passiert, wenn die Klage gewonnen wird, aber trotzdem kein Kitaplatz im Bezirk zur Verfügung steht?
Trenner: Wenn Jugendamt und Bezirk sagen, ‚wir können immer noch nicht zaubern‘, muss ich als Elternteil die Zwangsvollstreckung betreiben. Die bringt Eltern nichts, kostet aber das Land Berlin ein Zwangsgeld, das von der einen in die andere Landestasche wandert. Im Worst Case stehen die Eltern also weiterhin ohne Platz da. Im guten Fall genehmigen die Bezirke für kurze Zeit eine Überbelegung – dort wo erwartbar ausgebaut wird oder Kinder der Kita entwachsen. Das nimmt einerseits Druck von den Familien, bedeutet andererseits aber, noch mehr Kinder auf ohnehin zu wenige Fachkräfte zu verteilen. Man dreht sich damit also leider auch im Kreis.

Kita-Stimme: Welche Wege quer durch die Stadt müssen Eltern für einen Kitaplatz in Kauf nehmen?
Trenner: Gesetzlich ist festgelegt, dass der Platz zumutbar sein muss. Nach der Rechtsprechung bedeutet das, dass Eltern 30 Minuten für eine einfache Wegstrecke zugemutet werden kann. Je nachdem, welches Verkehrsmittel der Familie regelmäßig zur Verfügung steht, können das 30 Minuten mit der Ringbahn sein oder auch 30 Minuten mit dem Lastenrad. Daraus ergeben sich natürlich sehr unterschiedliche Radien. Dabei kann es passieren, dass der Kitaplatz 30 Minuten in Gegenrichtung zum Arbeitsplatz liegt. Das wäre allerdings ziemliches Pech.

„Es handelt sich aber um Plätze, die in der Realität gar nicht zur Verfügung stehen.“

Kita-Stimme: Laut Senatsverwaltung sollen angeblich 9.000 Kitaplätze unbesetzt sein. Angesichts der offensichtlichen Notlage ist das kaum zu glauben.
Trenner: In der Praxis kommt es vor, dass freie Kita-Träger für eine bestimmte Anzahl an Plätzen, sagen wir 65, eine Betriebserlaubnis haben, aber dennoch weniger Plätze besetzen – zum Beispiel, wenn sie feststellen, dass ihr Personal bereits auf dem Zahnfleisch geht. Das dürfen sie, schließlich geht es auch um die Qualität der Betreuung. Vergeben sie also beispielsweise nur 60 Plätze, gelten die restlichen fünf als unbesetzt. Es handelt sich aber um Plätze, die in der Realität gar nicht zur Verfügung stehen.

Kita-Stimme: Dazu kommt eine Studie von Bertelsmann, wonach 2023 in Berlin 17 000 Kitaplätze fehlen und 3.800 Fachkräfte eingestellt werden müssten. Trotzdem hat die Senatsverwaltung 100 Kita-Bauanträge freier Träger 2022/2023 abgelehnt. Streut die Verwaltung Sand ins Getriebe, weil es insgesamt an Geld für Kitaplätze und Fachkräfte fehlt?
Trenner: Das spielt sicher eine Rolle. Der Etat für Kita-Bau, der jährlich in den Haushalt eingestellt wird, ist relativ schnell ausgeschöpft. Dann genehmigt die Senatsverwaltung allenfalls noch dort, wo es am meisten brennt. Anträge, die nicht ganz so dringlich sind, werden ins darauffolgende Jahr verschoben.

Kita-Stimme: Müsste Berlin, wenn es den frühkindlichen Bildungsauftrag ernst nimmt, nicht den tatsächlichen Bedarf an Krippen- und Kitaplätzen endlich belastbar erheben – zum Beispiel indem die Eltern regelmäßig direkt befragt werden?
Trenner: Absolut. Andere Bundesländer machen das ja bereits. Die haben zum Beispiel Softwarelösungen wie den Kita-Navigator, wo sich Eltern registrieren und ihre Erst-, Zweit- und Drittwünsche aufschreiben. Sobald ein Kitavertrag abgeschlossen wird, werden sie aus dem System genommen. Das macht es enorm übersichtlich. In Berlin werden erst die Gutscheine von den Trägern bei dem Portal Integrierte Software Berliner Jugendhilfe angemeldet (ISBJ). Das passiert gegebenenfalls erst Monate später. Es kann also umgekehrt auch passieren, dass es in Berlin Karteileichen gibt, die längst versorgt sind, weil sie zum Beispiel in Brandenburg einen Platz gefunden haben. In Berlin wird über ein Instrument wie den Kita-Navigator eher Verwirrung gestiftet, weil die 9.000 Kitaplätze auch angeboten werden, die es faktisch nicht gibt.

Kita-Stimme: Frau Trenner, vielen Dank für das Gespräch.

Lesen Sie mehr zum Thema: KEP – Wo bleibt die Planung?